Entdinglichung

… alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist … (Marx)

Lesehinweise zum 95. Jahrestag des Beginns des Genozids an den ArmenierInnen im Osmanischen Reich

Posted by entdinglichung - 26. April 2010

* Toros Sarian: Deutschlands „unrühmliche Rolle“. Vor 95 Jahren begann der Völkermord an den Armeniern (analyse & kritik):

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Bei der Bundestagsdebatte im April 2005 sagte der CDU-Abgeordnete Christoph Bergner: „Eigentlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, hätte die Debatte um das Schicksal der osmanischen Armenier bereits 1916 hier im Reichstag stattfinden können. Unweit von hier informierte Johannes Lepsius am 7. Oktober 1915 die Presse. Die deutsche Militärzensur verhinderte jedoch die Verbreitung seiner Berichte zur Lage des armenischen Volkes in der Türkei. Die Zensur unterband auch die Information der Reichstagsabgeordneten. So fand die Debatte nicht statt.“

Bergner verschwieg, dass Karl Liebknecht am 11. Januar 1916 im Reichstag eine Anfrage gestellt hatte, um von der Regierung Auskunft über die Ereignisse im Osmanischen Reich zu erhalten. Liebknecht bezog sich dabei ausdrücklich auf die von dem deutschen Pfarrer Johannes Lepsius verbreiteten Informationen über die Deportationen und Massaker. „Ist dem Herrn Reichskanzler bekannt, dass während des jetzigen Krieges im verbündeten türkischen Reich die armenische Bevölkerung zu Hunderttausenden aus ihren Wohnsitzen vertrieben und niedergemacht worden ist? Welche Schritte hat der Herr Reichskanzler bei der verbündeten türkischen Regierung unternommen, um die gebotene Sühne herbeizuführen, die Lage des Restes der armenischen Bevölkerung in der Türkei menschenwürdig zu gestalten und die Wiederholung ähnlicher Gräuel zu verhindern?“, wollte Liebknecht von der Regierung wissen.
Deutschland übernimmt die Position der Türkei

Ein Vertreter des Auswärtigen Amts antwortete: „Dem Herrn Reichskanzler ist bekannt, dass die Pforte (die Regierung des Osmanischen Reiches; Anm. ak) vor einiger Zeit, durch aufrührerische Umtriebe unserer Gegner veranlasst, die armenische Bevölkerung bestimmter Gebietsteile des türkischen Reiches ausgesiedelt und ihr neue Wohnstätten angewiesen hat. Wegen gewisser Rückwirkungen dieser Maßnahmen findet zwischen der deutschen und der türkischen Regierung ein Gedankenaustausch statt. Nähere Einzelheiten können nicht mitgeteilt werden.“ Im Reichstag bestand weder Interesse an einer Debatte, noch an den „näheren Einzelheiten des Gedankenaustausches“ zwischen den Regierungen.

Das deutsche Auswärtige Amt war über alles, was im Osmanischen Reich vor sich ging, bestens informiert. Davon zeugen die zahlreichen Dokumente die dort im Archiv aufbewahrt wurden. Sie geben ein genaues Bild über das ganze Ausmaß der Verbrechen. (1) Darunter befindet sich eine Notiz von Reichskanzler Bethmann Hollweg vom Dezember 1915, das keinen Zweifel darüber lässt, was für die kaiserliche Regierung und Militärführung von vorrangigem Interesse war: „Unser einziges Ziel ist,“ vermerkte Bethmann Hollweg zu einem Bericht seines Botschafters in Konstantinopel, „die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht.“

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* Der Genozid an den Armeniern und die deutsche Beteiligung (Gruppe Internationaler SozialistInnen (GIS)):

„Doch der „Befreiungskampf“ nach dem Weltkrieg gegen die Besatzungsmächte unter Führung Atatürks stützte sich zu einem bedeutenden Teil gerade auf Einheiten der Teskilat-i Mahusa, die den Völkermord maßgeblich mitorganisierten. Atatürk selbst sorgte für deren Freilassung aus den Gefängnissen (sofern sie überhaupt inhaftiert waren) und viele, die sich armenisches Hab und Gut angeeigneten, hatten Angst davor, Überlebende könnten zurückkommen. Deshalb unterstützten sie sie umso vehementer Atatürk und den „Befreiungskampf“. Die türkische herrschende Klasse reagiert äußerst empfindlich auf Anschuldigungen im Zusammenhang mit dem Völkermord, denn ihre Herrschaft beruht gerade auf dem Mythos des „Befreiungskampfes“. Den Völkermord zu thematisieren heißt Atatürk und seine Republik, die auf der Vertreibung und Vernichtung anderer Volksgruppen beruht, in Frage zu stellen und den Kemalismus, der in weiten Teilen der türkischen Linken vorherrscht zu bekämpfen. Wie erwähnt kennt die türkische Geschichtsschreibung keinen Völkermord an den Armeniern. Türkische Schriftsteller und Publizisten haben in ihrer übergroßen Mehrheit verschiedene „Argumentationsstränge“ entwickelt. Ein gängiges Argument läuft darauf hinaus, dass Krieg gewesen sei und es daher auf beiden Seiten Tote gegeben habe. Andere behaupten, die Armenier seien deportiert worden, weil sie im Ersten Weltkrieg mit Russland kollaboriert hätten. Wiederum andere rechnen aus, wie viele Türken an den verschiedenen Fronten ums Leben gekommen sind und vergleichen die Zahlen. Die weitestgehende Legende macht die Opfer zu Tätern.“

* Türkische Rechtsextreme stören Armenien-Veranstaltung in Hamburg (NPD-Blog):

„Der Abend hinterließ einen bleibenden Eindruck vom Treiben türkischer Rechtsextremisten, das auch in anderen Städten zum Problem wird. So hat die Kölner CDU seit geraumer Zeit mit Vorwürfe zu kämpfen, Personen aus dem Umfeld der türkisch-faschistischen „Grauen Wölfe“ eine Plattform zu bieten. Zudem hielten deutsche CDU-Funktionäre Kontakt zu einem Verein, der von der nationalistischen MHP, der Mutterpartei der „Grauen Wölfe“, dominiert wurde. In die Kritik geriet auch der türkischstämmige Kandidat der Partei für den Kölner Integrationsrat. CDU-Vorstandesmitglied Minu Nikpay, Vorsitzende der Armenischen Gemeinde in Köln, beklagte sich gegenüber dem Kölner Stadtanzeiger: „Es kann nicht sein, dass man gegen deutschen Rechtsextremismus vorgeht und sich dann mit türkischen Rechtsextremen ins Bett legt.“

Die „Grauen Wölfe“ pflegen ein Weltbild, in dem – je nach Bedarf – Juden, Amerikaner, Freimaurer oder die Angehörigen nationaler Minderheiten in der Türkei als Personifikation des Bösen dienen. Die inhaltlichen und strukturellen Ähnlichkeiten mit dem Rechtsextremismus europäischer Provenienz sind unverkennbar. Das haben sogar schon die Nazis bemerkt: Seit einigen Jahren gibt es ein Strategiepapier der Hessischen NPD, in dem über die Zusammenarbeit mit den „Grauen Wölfen“ räsoniert wird. Als Basis wird ihre Ablehnung des EU-Beitritts der Türkei durch die MHP genannt. Eine weitere Brücke zur deutschen Rechten stellt eben die Verweigerung dar, sich der eigenen Vergangenheit zu stellen, wie es in Hamburg gerade eindrucksvoll unter Beweis gestellt wurde.“

Nachtrag: Kurdistan-Solidaritätskomitee Berlin: Tabubruch:

„Erstmals wurde am 95.Jahrestag des Beginns des Völkermordes an den Armeniern im Osmanischen Reich öffentlich in der Türkei der während des Ersten Weltkrieges ermordeten Armenier gedacht. Mitglieder des türkischen Menschenrechtsvereins IHD erinnerten am Bahnhof Haydarpasa an die ersten 220 armenische Intellektuelle und Gemeindevorsteher, die am 24.April 1915 auf Weisung der damals herrschenden jungtürkischen Militärjunta von hier aus deportiert wurden. …

Samstag Abend versammelten sich rund 75 Unterzeichner der in der Türkei vieldiskutierten Erklärung und einige hundert Unterstützer auf dem zentralen Taksim-Platz in Istanbul. „Dieser Schmerz ist unser Schmerz, unsere gemeinsame Trauer“ stand auf einem von roten Nelken und Kerzen umgebenen Transparent. Gezeigt wurde auch ein Bild des 2007 in Istanbul von einem Faschisten erschossenen armenischen Journalisten Hrant Dink. „Ein weiterer Teil des Tabus ist gebrochen“, erklärte der Politologe und Mitorganisator der Gedenkveranstaltung Cengiz Aktar. Anschließend zogen die Teilnehmer des Gedenkens durch die Istiklal-Fußgängerzone und riefen „Schulter an Schulter gegen den Faschismus“ und „Für die Brüderlichkeit von Armeniern, Türken und Kurden.“ Rund 1000 Polizisten schützen die Gedenkfeiern nach vorangegangen Drohungen nationalistischer Gruppen. Einige Dutzend Gegendemonstranten, darunter ehemalige Diplomaten, die an ihre von der armenischen Untergrundorganisation ASALA in den 70er und 80er Jahren ermordeten Kollegen erinnerten, wurden von der Polizei aufgehalten.“

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