Wieder einmal ein lesenswerter Diskussionsbeitrag zu einem von grossen Teilen der Linken vernachlässigten Thema aus den Reihen der Revolutionär Sozialistischen Organisation (RSO):

Ficken im Kapitalismus
Geschrieben von Sabine Saloschin (RSO Wien Uni) & Eric Wegner (RSO Wien Betrieb 2)
Sonntag, 07 November 2010
Sexualität ist ein wichtiger Teil unseres Lebens. In der modernen kapitalistischen Gesellschaft sind sexualisierte Darstellungen allgegenwärtig. In der ArbeiterInnenbewegung und der Linken ist das Thema hingegen oft stark unterbelichtet. Wir stellen hier einige grundlegende Überlegungen an – zur Entwicklung von Sexualität im Kapitalismus, zum zeitgenössischen Attraktivitätsmarkt und zu den Positionen der sozialistischen Bewegung zu Sex, Liebe und Moral.Heute ist Sexualität weitgehend von kapitalistischen Marktmechanismen durchdrungen. Das betrifft nicht nur Prostitution und den Heiratsmarkt, sondern auch die Auswahl von SexualpartnerInnen. Die grelle Kommerzialisierung und Pornografisierung von Sexualität steht in auffallendem Kontrast zu den weit verbreiteten Idealen von romantischer Liebe, monogamer Treue und „traditioneller“ Kleinfamilie. Diese Widersprüche sind Ausdruck der Entwicklung von Sexualität unter den Bedingungen der Klassengesellschaften der letzten Jahrhunderte.
Sex in Bauernschaft, Bourgeoisie und Proletariat
Im europäischen Feudalismus reproduzierten sich die Herrschaftsverhältnisse auch auf der Ebene der Sexualität. Die leibeigene Bevölkerung, insbesondere Frauen, waren den sexuellen Wünschen der adeligen Herren weitgehend ausgeliefert. Die Kirche vertrat die Linie „heiraten ist gut, aber nicht heiraten ist besser“, um so das Personal für den Klerus zu rekrutieren. Außerhalb des Klerus war die Ehe das zentrale Bezugssystem. Die bäuerliche Familie war eine soziale Einheit, der auch das Gesinde angehörte. Für die Auswahl der EhepartnerInnen waren Besitz, Erbschaft und Arbeitsfähigkeit entscheidend und nicht sexuelle oder emotionale Anziehung.
Große Teile der Bevölkerung waren allerdings vom Recht auf Heirat ausgeschlossen: unterbäuerliche Schichten, Gesinde, nichterbende Geschwister. Sie waren einerseits den sexuellen Begehrlichkeiten des Patriarchen des bäuerlichen Haushaltes ausgesetzt. Andererseits entwickelten sich auch innerhalb dieser unteren Schichten sexuelle Beziehungen; da sie „illegitim“ waren, mussten sie oft versteckt stattfinden (nicht zufällig entwickelte sich im alpinen Raum der Spruch „auf der Alm, da gibt´s ka Sünd`“, waren doch durch die Almwirtschaft Knechte und Mägde oft monatelang der direkten Kontrolle des Herren und der Kirche entzogen).
Heiratsverbote und die Ächtung unehelicher Kinder sollten das Bevölkerungswachstum eindämmen. Das funktionierte nur teilweise; dadurch, dass eine große Anzahl an Kindern in der Feudalgesellschaft unehelich war, wurden die ländlichen Unterschichten reproduziert. Sexualität war durch Sitten und Gebräuche geprägt; Abweichungen wurden von der kirchlich vorgegebenen Norm als „Sodomie“ verurteilt. Im Falle von Vergewaltigungen („Nothzucht“) mussten Frauen beweisen, ihre „Scham“ ausreichend verteidigt zu haben. Frauen aus den unteren Schichten hatten gegen höher gestellte Vergewaltiger ohnehin keine realen rechtlichen Möglichkeiten.
Im 19. Jahrhundert fand eine erste „sexuelle Revolution“ statt. Die Entwicklung der Industrie und der damit verbundene Arbeitskräftebedarf führten zu einer erhöhten Mobilität. In der Folge kam es zu einer Erosion der hausrechtlichen Abhängigkeit des Gesindes. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts gab es erhöhte Raten von „illegitimen“, also unehelichen Geburten. Unter dem Druck der tatsächlichen sozialen Veränderung wurde auch die Gesetzgebung gemildert: Der voreheliche Geschlechtsverkehr wurde entkriminalisiert.
Mit der sich durchsetzenden kapitalistischen Produktionsweise fielen Produktion und Reproduktion immer mehr auseinander. In der Folge entstand die bürgerliche Kleinfamilie. Die wissenschaftliche Betrachtung von Sexualität wurde zur neuen Ideologie: Es wurden Normen von Sexualität, Männlichkeit und Weiblichkeit wissenschaftlich definiert, Männern ein „Geschlechtstrieb“, Frauen ein „Liebestrieb“ zugewiesen. In dieser Zeit kam es auch zu einer Pathologisierung weiblicher Sexualität (Nymphomanie, Hysterie). Homosexualität wurde biologisiert und ebenfalls als krankhaft und degeneriert eingeordnet. Erstmals geriet dabei auch lesbische Sexualität in den Blick. Generell wurde alles außer vaginaler Penetration zu „unnatürlichen“ Koitusarten erklärt. Selbstbefriedigung wurde weiterhin abgelehnt und als Ursache für Krankheit und frühen Tod dargestellt.
In der ArbeiterInnenklasse des 19. und frühen 20. Jahrhunderts waren uneheliche Beziehungen üblich und vorehelicher Sex mehr oder weniger die Norm. Die SexualpartnerInnen fanden sich am Arbeitsplatz, im Wohnviertel und im Freundeskreis. Diese in gewisser Hinsicht „freien“ sexuellen Beziehungen waren aber in Wirklichkeit ganz stark von den gesellschaftlichen Machtverhältnissen geprägt. Besser verdienende Arbeiter unterstützten ihre Sexualpartnerinnen oft finanziell, die Grenze zur Prostitution war oft fließend. Durch eine Mischung aus Begünstigungen und Drohung mit Sanktionen schufen sich Vorgesetzte auch einen sexuellen Zugriff auf Fabriksarbeiterinnen; der Ausdruck der „zweiten Schicht“ der Arbeiterinnen (im Bett von Vorgesetzten) wurde geprägt. Egal ob in der vielschichtigen Prostitution oder in relativ freien Sexualbeziehungen in der ArbeiterInnenklasse: Das Hauptproblem (vor allem natürlich für die Frauen) waren ungewollte Schwangerschaften, standen doch kaum verlässliche Verhütungsmethoden zur Verfügung.
Sex bei den marxistischen KlassikerInnen
Bei den marxistischen TheoretikerInnen, die sich mit der Frage von Sexualität auseinandersetzen, stand der Kampf gegen die konservative Sexualmoral, die von den IdeologInnen der herrschenden Klasse und der Kirchen verbreitet wurde, mit im Vordergrund. Sie spielten in dieser Hinsicht im gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang eine progressive Rolle. Es gab bei ihnen, in unterschiedlichem Ausmaß, aber auch zweifelhafte und falsche Konzepte. Sie wiesen empört und mit Recht darauf hin, wie sehr im Kapitalismus auch die sexuellen Beziehungen von materiellen Abhängigkeiten und Machtverhältnissen geprägt sind, reproduzierten dabei aber auch romantische Vorstellungen von „reiner Liebe“ und stellten die ArbeiterInnenbewegung als deren konsequenteste Vertreterin dar. In der marxistischen Sexualdebatte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ging der Blick kaum über die klassische Heterosexualität hinaus. Die Diskussion um „freie Liebe“ war eine kontroversielle.
Alexandra Kollontai, russische Kommunistin, meinte, der Kapitalismus bringe einen „neuen Frauentypus“, unabhängigere und auch sexuell selbstbewusstere Frauen, hervor. Der Sexualakt sei etwas „Natürliches wie der Durst“. Gleichzeitig warnte sie aber davor, dass übermäßiger Sex zu einem „Auszehren“ führe. „Freie Liebe“ belaste die Menschen – durch die im Kapitalismus bestehende verkrüppelte Psyche und durch die Konkurrenz um SexualpartnerInnen. In der Folge trat sie für serielle Monogamie ein, wobei sie Liebe stark mit ehelicher Gemeinschaft (mit „Seelennähe“) identifizierte. Den Kampf für eine neue Sexualmoral sah sie als Teil des revolutionären Kampfes. Gleichzeitig vertrat sie – wie schon gute Teile der proletarischen Frauenbewegung des beginnenden 20. Jahrhunderts, insbesondere auch Clara Zetkin – sehr stark Mutterkult-Ideen.
W.I. Lenin, Führer der Bolschewiki, wandte sich gegen die „Fäulnis der bürgerlichen Ehe“, gegen die „Versklavung der Frau“ in ihr und im Allgemeinen gegen die „ekelhafte Verlogenheit“ in den sexuellen Verhältnissen der bürgerlichen Gesellschaft. Er sprach sich für eine „Revolutionierung der sexuellen Beziehungen“ aus, sah aber gleichzeitig das Proletariat als Verteidiger der Liebesehe gegen die unmoralische Bourgeoisie. Sexuelle Zügellosigkeit betrachtete Lenin als bürgerliche Verfallserscheinung. Dementsprechend war er gegen Konzeptionen der „freien Liebe“, wie sie von Ruth Fischer vertreten und in der KPD-Jugend populär wurden.
Ruth Fischer (eigentlich Elfriede Friedländer), österreichisch-deutsche Kommunistin, vertrat in ihrer Broschüre „Sexualethik des Kommunismus“ die Position, dass Menschen „triebhaft polygam veranlagt“ seien. Im Kommunismus gebe es eine Freiheit des sexuellen Lebens von der ökonomischen Existenz. Es müsse eine individuelle Entscheidung sein, ob man/frau „promiskue, polygam oder monogam“ lebe – und das gelte „selbstverständlich“ auch für Homosexualität. So sehr Fischer damit ihrer Zeit voraus war, so vertrat sie teilweise auch antiquierte Ansichten, etwa, dass übermäßiger Sex zu „Verblödung“ führe.
Wilhelm Reich, österreichisch-deutscher Kommunist und Sexualforscher, verfasste mit seinem Buch „Die sexuelle Revolution“ eine Kritik der reaktionären Sexualpolitik des Stalinismus. Er versuchte eine Verbindung von Psychoanalyse und Marxismus und gründete ein Sexualpolitik-Institut. Er betonte, dass die Sexfrage keine Ablenkung vom Klassenkampf und auch nicht privat sei, sondern politisch und der „Kern“ der kulturellen Revolution. Es sei eine Erziehung zur Sexbejahung nötig, wobei sich das nur auf Heterosexualität bezog. Zu Homosexualität, die Reich – in mangelnder Abgrenzung zu den konservativen Vorurteilen seiner Zeit – als unnatürlich betrachtete, hatte er ein therapeutisches Verhältnis.. Im späteren US-Exil entwickelte er ausgesprochen esoterische Theorien.
Von der Zwischenkriegszeit zur 68er-Revolte
Zwischen den beiden Weltkriegen spielte in Europa der Kampf für einen Zugang zu Verhütungsmitteln und für das Recht auf Abtreibung eine wichtige Rolle. In der ArbeiterInnenbewegung wurde über einen Gebärstreik als politisches Druckmittel diskutiert. Insgesamt entstanden in der ArbeiterInnenbewegung Elemente einer Gegenkultur, in der traditionelle Sichtweisen von Sexualität und Moral weniger stark ausgeprägt waren als im Rest der Gesellschaft. Durch aus dem BürgerInnentum kommende FührerInnen der ArbeiterInnenbewegung und ihre Lebensweise sowie generell durch die sich an das System anpassende bürokratische Schicht wurden gleichzeitig bürgerliche Familiennormen in der ArbeiterInnenklasse verbreitet; eine Entwicklung, die bereits Ende des 19. Jahrhunderts begonnen hatte.
Der Nationalsozialismus bedeutete eine Förderung der sexuellen Liberalisierung. Allerdings galt das nur für Heterosexualität von „gesunden ArierInnen“. Das NS-Regime stand auch für eine Säkularisierung von Sexualität: Sex und Leidenschaft wurden als eine Art religiöses Erlebnis dargestellt. Während des Krieges gaben die Nazis zum Trost für die Soldaten die Parole „jedem Hänschen sein Sabinchen“ aus. Durch die Ausbeutung der besetzten Gebiete wurden dort unter der NS-Herrschaft viele Frauen und Mädchen in die Prostitution gezwungen, um überleben zu können; die Wehrmachtsbordelle wurden unter Kontrolle von oben betrieben und mit der Zeit geschlechtskrank gewordene (Zwangs-) Prostituierte ermordet.
Die vom US-Imperialismus geprägte Nachkriegsordnung brachte auch in Westeuropa in der Frage der Sexualität eine konservative Wende. Sie stand in Abgrenzung zur ArbeiterInnenbewegung, aber auch zum Nationalsozialismus: Abtreibung etwa wurde wie schon im Nationalsozialismus verfemt und nun sogar mit Mord und KZ gleichgesetzt. Propagiert wurden Ehe, Familie, „sexuelle Reinheit“ und Treue. Verboten waren Homosexualität und Pornografie, abgelehnt wurden Selbstbefriedigung und „abnormer“ Geschlechtsverkehr (also alles außer vaginaler Penetration). Selbstverständlich unterschied sich die Praxis erheblich von dieser konservativen Sexualmoral.
Mitte/Ende der 1960er Jahre waren diese verkrusteten Moralvorstellungen nicht mehr mit der gesellschaftlichen Modernisierung in Einklang zu bringen. Auch die Durchsetzung der „Anti-Baby-Pille“ ab Anfang der 1960er Jahre spielte eine Rolle. Die Folge war die so genannte „sexuelle Revolution“, die mit dem Jahr 1968 assoziiert wird. In der Hippie-Szene und in der linken Jugend- und StudentInnenbewegung wurde mit „freier Liebe“, Kommunen etc. experimentiert. Das bedeutete einerseits einen tatsächlichen Bruch mit der spießigen Heuchelei der vergangenen Jahrzehnte. Gleichzeitig aber wurden in „der Bewegung“ auch Geschlechterrollen reproduziert: „hübsche“ Frauen als Aufputz für die „Anführer“, Aufwertung von Frauen über „berühmte Genossen“. Teilweise gab es Interpretationen der „freien Liebe“, die Frauen ständige sexuelle Verfügbarkeit abverlangten.
Was waren die Ergebnisse der „68er-Revolte“ auf dem Gebiet der Sexualität? Es wurde die konservative Sexualmoral zurückgedrängt. Insgesamt stieg aber – durch die Pille und durch die Freizügigkeitsideologie bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung patriarchaler Machtstrukturen – auch die Vorstellung, dass Frauen sexuell stärker verfügbar sein müssten; und teilweise entsprach das auch der Realität. Der Feminismus wurde mit der Zeit offiziell und institutionalisiert. Teilweise bildeten sich seltsame Koalitionen: die VerfechterInnen der sexuellen Befreiung gemeinsam mit dem sexistischen Pornoproduzenten Larry Flint, Feministinnen wie Alice Schwarzer gemeinsam mit der Kirche und anderen ReaktionärInnen. Jedenfalls bedeutete der 68er-Bruch eine Liberalisierung des Sexualmarktes.
Sex- und Attraktivitätsmarkt
Sexualität ist in der kapitalistischen Gesellschaft stark von Marktmechanismen geprägt – und zwar auf verschiedensten Ebenen. In manchen Bereichen ist das offensichtlich. Beispielsweise macht die Pornobranche weltweit einen Jahresumsatz von geschätzten 20 Milliarden US-Dollar. Prostitution ist weltweit einer der größten Geschäftszweige: Bereits 2005 wurde er auf einen Umsatz von 60 Milliarden US-Dollar pro Jahr geschätzt, Tendenz steigend; 2010 war dann allein für Deutschland von 15 Milliarden Euro im Jahr die Rede. Unverhüllt um ein Geschäft handelt es sich auch bei traditionellen Heiraten, wo Arrangements, Mitgiften etc. im Spiel sind.
Nicht mehr ganz so offen, aber doch noch klar erkennbar sind die Austauschverhältnisse bei Beziehungen nach dem Strickmuster „alter reicher Mann“ und „schöne junge Frau“ oder „Mann aus Europa oder Nordamerika“ und „junge Frau aus abhängigem Land“, die oft wie in einem Katalog ausgesucht, „bestellt“ und bei Bedarf auch wieder „umgetauscht“ werden kann; mag es in manchen Fällen auch tatsächliche Zuneigung geben, so ist die Grenze zur Prostitution dennoch fließend. Nicht so offensichtlich wie bei den beschriebenen Formen des Sexmarktes ist der Einfluss der kapitalistischen Marktverhältnisse auf dem „Attraktivitätsmarkt“, auf dem die Individuen – insbesondere in den „modernen“ kapitalistischen Metropolen – zueinander in Beziehung treten beziehungsweise miteinander „ins Geschäft“ kommen.
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